Von Dr. Rainer Esser, Geschäftsführer ZEIT Verlag, Geschäftsführer der DvH Medien GmbH, Mitglied des Vorstandes der Publikumszeitschriften (PZ) im VDZ

Die Digitalisierung verändert unser Leben in jeder Hinsicht. Ob in der Automobilbranche, der Musikindustrie oder in den Medien – diese Revolution schreitet immer zügiger in
jeder Branche voran. Sie verändert die Gewohnheiten unserer Leser und User und unsere Geschäfte und Erlöse – und das immer schneller.

Erst vor etwa 20 Jahren haben wir in den Printmedien gelernt, dass das Internet für unsere Publikationen wichtig wird. Wir haben eigene Webpräsenzen geschaffen und Inhalte online gestellt. Einige Jahre später wurde Google das entscheidende Reichweiteninstrument und unsere Journalisten lernten »für Google« zu schreiben. Jetzt kommen neue Player auf den Markt, die sich nicht mehr um Google scheren, sondern ausschließlich um die virale Verbreitung ihrer Inhalte, vor allem auf dem Smartphone.

Für BuzzFeed, Upworthy und Co ist Google »out«; die Angebote brechen dennoch Reichweitenrekorde. Der Fokus hat sich von »page-ranked« (durch Google) zu people-ranked « (durch Facebook) verschoben. Was heißt das für unser Geschäft, den Nachrichtenjournalismus? Welche neuen Formate und Trends etablieren sich? Wo liegen neue Chancen? Wie konsumieren die künftigen Leser Nachrichten?

Entscheidend und sehr erfreulich ist, dass auch die »Generation Y« oder »die Millennials« sehr gern anspruchsvollen Journalismus konsumieren. Entgegen dem gelegentlichen Verdacht sind sie nicht nur an
Katzenvideos, Dating Listicles oder sich selbst interessiert, sondern an tiefer Berichterstattung und Debatte. Das ist unsere Chance: Schaffen wir neue Formate, die dieser Generation Freude machen!

Insgesamt sehe ich drei wichtige Strömungen, die neue Formate im Nachrichtenjournalismus befördern: Angebote, die sich neuen Erzählformen widmen, Plattformen, die nur durch den sogenannten »Social Buzz« getrieben werden, und neue Tools und Apps, die beispielsweise versuchen, die wichtigsten News eines Tages für ein Smartphone-Display redaktionell »zusammenzudampfen«. Etwas konkreter:

1. Neue Erzählformen

Da sind zum einen die Angebote, die sich neuen Erzählformen widmen, die bisher in der digitalen Welt wenig Relevanz hatten: lange Geschichten, sogenannte »Longform« oder »Slow Journalism« Stories, mit vielen Hintergrundinformationen, die in allen multimedial denkbaren Formaten realisiert werden. Text-, Video-, Audio- und Bilderstrecken wechseln sich ab und werden mit interaktiven Features, Quiz und Umfragen ergänzt.

Zu nennen ist hier narrative.ly (www.narrative.ly). Die Seite nimmt jede Woche ein bestimmtes Thema unter die Lupe und behandelt es jeden Tag aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Dabei besteht kein Anspruch auf Aktualität, die Themen sind nicht »hot«, nicht cool oder sexy und auch nicht immer gefällig. Sie reichen von Hip-Hop über Themen wie »Leben auf der Flucht« oder »Kunst an ungewöhnlichen Orten«. Ziel der Seite ist es, Geschichten von ganz normalen Menschen in einer Art und Weise zu erzählen, dass sie spannend sind und hängen bleiben.

Diese Strategie ist ein Gegenentwurf zu Twitter oder den endlosen Nachrichtenströmen vieler Websites. Und das ist auch das Erfolgsrezept. Noch gibt es für das Start-up kein etabliertes Geschäftsmodell. Die Macher liebäugeln mit Sponsoren wie auch einem Paid-Content-Modell. Beachtlich ist, dass narrative.ly, obwohl erst ca. 100.000 Unique User die Seite monatlich besuchen, im letzten Jahr vom TIME Magazine in die »Top 50 Besten Websites« gewählt worden ist.

Weitere Beispiele sind Policymic (www.policymic.com), Quartz (www.qz.com) und OZY (www.ozy.com):

Policymic ist eine Nachrichtenseite und Community, ein Ort für »Millennials«, wo große soziale, kulturelle und politische Themen debattiert werden. Dafür können die angemeldeten User sogenannte »Mics« für intelligente Artikel und Kommentare vergeben und damit den Autoren eine »lautere Stimme« verleihen. Und sie bekommen selbst mehr Möglichkeiten, mit den anderen Usern zu interagieren. Mit dieser Philosophie schafft es das knapp drei Jahre alte Unternehmen, ca. elf Millionen Unique User pro Monat anzuziehen. |1|

Quartz ist ein rein digitales, auf mobile Endgeräte ausgerichtetes Nachrichtenportal mit einem sehr speziellen Design. Die App ist noch keine zwei Jahre live, aber der Traffic liegt bereits bei rund fünf Millionen Unique Usern. |2| Aus meiner Sicht sind vor allem zwei Faktoren erfolgsentscheidend: Quartz lebt das Motto »mobile und tablet first« durch und durch. Das stationäre Web spielt hier keine Rolle. Und: Quartz verabschiedet sich komplett von vordefinierten Rubriken oder Themenseiten, wie wir sie von den meisten Webseiten kennen. Stattdessen setzt man auf sogenannte »Phänomene«, nach denen die Website strukturiert wird.

OZY ist ein digitales Nachrichtenmagazin, das sich auch nicht auf Themenbereiche oder Ressorts konzentriert, sondern auf Dinge, die aus Sicht der 15-köpfi gen Redaktion wichtig sind. Das Motto: »What’s new and what’s next?«. Auch hier finden sich nicht die üblichen Rubriken der Nachrichtenbranche, sondern das Team schreibt nicht weniger als »ein tägliches Briefing für den Präsidenten« oder Beiträge zu so genannten »Rising Stars und Provokateuren«. OZY präsentiert dabei nicht Hunderte, sondern nur rund zehn Storys pro Tag und bietet einen Mix an: aus lang und kurz, »slow journalism« und schneller Aggregation, Video genauso wie Text und anderen Formaten.

2. Formate, die durch das Social Web gespeist werden

Die zweite Strömung sind Plattformen, die durch den »Social Buzz« getrieben werden. Was in den Social Networks wie Facebook oder Twitter »trending« ist, also häufig geteilt, weitergeleitet oder »retweeted« wird, wird hier präsentiert. Und die Inhalte, insbesondere die Headlines, werden so lange getestet, bis die besten Verbreitungsquoten erreicht werden.

Zu nennen ist hier – neben BuzzFeed oder Mashable – Upworthy (www.upworthy.com): Upworthy wurde im Jahr 2013 zur am schnellsten wachsenden Media-Website überhaupt und hatte Ende des Jahres doppelt so viele Unique User wie die Website der »New York Times« |3| – nach nur 20 Monaten im Netz. Heute hat die Site bis zu 60 Millionen Visitors pro Monat. |4| Der Grund: Upworthy nutzt allein die Möglichkeiten der sozialen Medien, insbesondere Facebook, um Inhalte zu aggregieren und zu verbreiten, und trifft damit einen Nerv. Der Fokus liegt auf dem Kuratieren von Videos, die gern geteilt werden, und den entsprechenden, oft reißerisch formulierten Überschrift en. Sie sind entscheidend: »A good headline can be the difference between one thousand people and one million people reading something«, so der Gründer. Wie OZY produziert auch Upworthy keine Massen an Inhalten: Monatlich werden nur etwas mehr als 200 Stücke publiziert. Die Community teilt diese und sorgt dafür, dass sie sich im Netz verbreiten.

Auch NowThis News (www.nowthisnews.com) ist ein Start-up, welches konsequent die Zielgruppen in sozialen und mobilen Medien fokussiert. Das Unternehmen hat es sich zum Ziel gesetzt, »the news in your pocket« zu sein. Eigentlich ist NowThis News ein Videoportal: Mit Studios in New York und Washington produziert das Unternehmen mehr als 50 tägliche Video-Updates für Facebook, Instagram, Snapchat, Twitter, Vine, YouTube, Android- und Apple-Apps und das Mobile Web. Dabei wird ein Thema immer nur für eine Plattform aufbereitet: Also 6s-Videos für Vine, 15s-Instagram-Videos oder einminütige Clips, die auf der eigenen Mobile App laufen und von dort via Twitter, Facebook oder die verschiedenen Partner wie MSN, AOL oder BuzzFeed weiterverteilt werden. Das Businessmodell setzt auf Branded Content, also exklusiv produzierte Clips, für zahlende Kunden, die in den Rest der Inhalte eingebettet werden.

Weiter gibt es Current.ly (www.current.ly): Die App macht eigentlich nichts anderes, als Twitter-Nachrichten mit einem eigenen Algorithmus neu zu sortieren und in ansprechendem Design darzustellen. Auf einer Übersicht sieht der User die Themen, die gerade bei Twitter wichtig sind, und wählt aus, welches Thema ihn interessiert, oder er »swipt« durch die verschiedenen Themen. Dieses Konzept ist eine echte Herausforderung für uns alle in der Zukunft . Denn: Für viele junge Menschen scheint eine solche Liste von Twitter-Themen und Hashtags auszureichen, um das Gefühl zu haben, man sei über die aktuelle Nachrichtenlage informiert.

3. Neue Tools und Apps von unterschiedlichen Playern

Last but not least sehe ich eine Vielzahl neuer Tools und Apps, die die wichtigsten News eines Tages für ein Smartphone-Display redaktionell »zusammendampfen« oder die wichtigsten Informationen aus verschiedensten Quellen für einen Mobile Screen aggregieren. Hier ist besonders der Blick auf neue Player interessant, die durch Aggregation oder auch eigene Redaktion versuchen ins Nachrichtengeschäft einzusteigen. Zum Beispiel die News-Aggregations-App Pulse (www.pulse.me): Das Interessante ist hier nicht die Art und Weise, wie Nachrichten dargestellt oder aggregiert werden, sondern das Netzwerk, das dahintersteht. Und das ist neu. Denn im April letzten Jahres wurde Pulse für 90 Millionen Dollar von LinkedIn gekauft – ein wichtiger Schritt in der Content-Strategie des Netzwerks: Mit einer eigenen News-App, vielen bestehenden Partnerschaften mit Publishern und einem Netz von 500 sogenannten »Influencern« – einflussreichen und bekannten Menschen, die für LinkedIn schreiben – wird LinkedIn selbst zum Content Provider und damit attraktiver für seine Mitglieder. Sie kommen häufiger wieder und haben eine höhere »stickiness« auf der Seite, das heißt, sie bleiben länger und interagieren mehr. Dadurch bekommt LinkedIn mehr Macht und Relevanz im Kampf um die Kontrolle des so genannten »professional graph«.

Eine weitere interessante News-App ist Summly, heute eher bekannt als Yahoo News
Digest (https://de.mobile.yahoo.com/newsdigest/): Die App fasst Nachrichten zusammen, das
heißt, ein cleverer Algorithmus kürzt Texte auf nur wenige Absätze. Ein ideales Tool für die
»Generation Twitter«. Gleichzeitig nutzt die App eine Logik aus der analogen Publishing-Welt: Sie liefert die komprimierten News nur zweimal am Tag: morgens um acht Uhr und abends um 18 Uhr. Dabei hat sie den Anspruch, dass alles dabei ist, was der User an diesem Tag wissen muss – und das in jeweils zehn Nachrichten. Dann ist Schluss. Ein klares Ende der angebotenen News differenziert die App von den endlosen Streams auf Facebook oder bei anderen News-Aggregatoren.

Ähnlich ist Cir.ca (www.cir.ca): eine App, die sich selbst als »erste Nachrichtenredaktion« bezeichnet, »die nur für die mobile Welt arbeitet «. Die Redakteure kuratieren jeden Tag die für sie relevantesten Nachrichten und transformieren diese in »Ein-Mobile-Screen-Nachrichten « oder einfache Charts und Grafiken. Cir.ca versucht dabei nicht, den Content an ein mobiles Gerät anzupassen und dort besser aussehen zu lassen, sondern verändert vielmehr einen Artikel und dessen Inhalt fundamental für die Lesbarkeit auf einem kleinen Screen. Die Absätze und Bilder werden in kleine »Boxen« verpackt und beim Scrollen hervorgehoben. Um zu wachsen, arbeitet das Team an einer Möglichkeit, Cir.ca-News in andere mobile Seiten zu integrieren. Frisches Geld soll zudem durch klassische Werbung und »Native Advertising« kommen. Außerdem ist ein Lizenzierungsmodell für die auf Cir.ca generierten Daten geplant. |5|

Fazit

Egal, was man jetzt über die in aller Kürze dargestellten Beispiele denken und welche Zweifel man bezüglich der Geschäftsmodelle oder der Nachhaltigkeit der vorgestellten Trends haben mag, an einem Punkt kommen wir nicht vorbei: Der Markt und unsere Zielgruppe verändern sich immer schneller. Die Digitalisierung eröffnet uns neue Angebote und Geschäfte. Wir können nicht zusehen, wir müssen dabei sein! Wir müssen up-to-date sein, was in unserem Kerngeschäft passiert, aber auch zunehmend Dinge ausprobieren, um in anderen Bereichen zu wachsen. Die Player in der digitalen Welt sind dynamisch, risikofreudig, flexibel und schnell. Lassen wir uns von ihnen inspirieren!