Die aktuelle Ausnahmesituation, ausgelöst durch die Corona-Epidemie, überfordert viele unserer normalen psychischen Reaktionsweisen. Auf Krisen wie diese sind wir Menschen psychisch nicht gut vorbereitet.

Die Diplom-Psychologin und approbierte psychologische Psychotherapeutin Julia Scharnhorst klärt über typische Denkfallen auf, in die Menschen in solchen unerwarteten Situationen verfallen können. Außerdem liefert die Expertin für Fragen zur psychischen Gesundheit wertvolle Tipps, wie man diesen Denkfallen entkommen und sinnvoll handeln kann.

1. Denkfalle: Falsche Risikoeinschätzung

Wir Menschen sind nicht gut im Einschätzen abstrakter Risiken – das kann zu übertriebener Angst und Panik führen. Aber auch Nachlässigkeit und Unvorsichtigkeit können durch Verdrängen des Risikos auftreten. Gerade Risiken, die wir nicht sehen, hören oder fühlen können, z. B. Viren oder radioaktive Strahlung, werden als besonders bedrohlich empfunden. Konkrete Risiken, z. B. der Hund der zähnefletschend und knurrend vor einem steht, sind besser einzuschätzen. Im Zustand der Angst sind wir nicht mehr gut in der Lage, rational und wohlüberlegt zu handeln.

Tipp: Suchen Sie sich Informationen zur tatsächlichen Schwere und Bedrohlichkeit der Covid-Epidemie, z. B. Schwere der Symptome, die Risikofaktoren für einen schweren Verlauf oder die Todesraten im Vergleich zu anderen Erkrankungen. 

So ist es tatsächlich so, dass das Corona-Virus zu mehr Todesfällen führt als ein Grippevirus. Laut Robert-Koch-Institut liegt die Wahrscheinlichkeit an einer Grippe zu sterben in Deutschland bei 0,1 bis 0,2 Prozent. Nach den bisherigen Daten ist die Wahrscheinlichkeit, am Corona-Virus zu sterben, wahrscheinlich fast zehnmal so hoch – sie liegt bei ein bis zwei Prozent. 

Informieren Sie sich über die Verbreitung der Erkrankung und der Symptome. Bewerten Sie diese Informationen kritisch. So können statistische Angaben aus anderen Ländern für Deutschland nur wenig aussagekräftig sein. In Ländern, in denen vielleicht nur die schweren Fälle überhaupt erkannt und registriert werden, werden von diesen Erkrankten relativ viele sterben – die Sterberate liegt scheinbar sehr hoch. In anderen Ländern werden vielleicht auch leichte Krankheitsverläufe erkannt und erfasst – wenn man auch die leichten Fälle mit einbezieht, sinkt die statistische Wahrscheinlichkeit an der Erkrankung zu sterben.

2. Denkfalle: Verdrängung von Krankheit und Tod

Krankheit und Tod sind angstbesetzte Themen. Wir sorgen uns nicht nur um die eigene Gesundheit, sondern auch um die unserer Familien und Freunde. Gerade bei Ungewissheit darüber, wie schwer eine Erkrankung ist und wann sie wen treffen könnte, neigen wir zu starken Ängsten. Es wird dabei ausgeblendet, wie verbreitet die Krankheit wirklich ist, wie schwer oder leicht sie verläuft und wie viele Todesfälle es durch das Corona-Virus gibt im Vergleich mit anderen Todesursachen. Das macht eine realistische Einschätzung des persönlichen Risikos schwierig.

Weil wir diese Themen eher verdrängen, haben wir uns oft nicht ausreichend auf das Eintreten von Krankheit oder Tod vorbereitet. Viele Menschen schieben das Erstellen einer Vorsorgevollmacht oder einer Patientenverfügung immer wieder auf. Damit machen sie es aber im Ernstfall sich selbst oder den Angehörigen umso schwerer.

Am besten ist es, sich frühzeitig mit diesen unangenehmen Themen auseinanderzusetzen und auch mit Familie und Freunden darüber zu sprechen.

Tipp: Setzen Sie sich mit dem Thema Krankheit und Tod bewusst auseinander – auch unabhängig von der aktuellen Corona-Krise. Jetzt ist ein aber guter Anlass sich zu überlegen, wie gut Sie für den Krankheits- oder Todesfall vorgesorgt haben: Haben Sie finanzielle Rücklagen für den Krankheitsfall? Wer könnte sich um Sie kümmern, falls Sie krank werden? Haben Sie eine Patientenverfügung, eine Vorsorgevollmacht oder ein Testament vorbereitet? Sind Ihre Angehörigen darüber informiert, wie sie im Falle Ihres Todes vorgehen sollten und wo sich z. B. wichtige Unterlagen finden?

Auf einige Menschen mag es irritierend wirken, sich mit der Vorbereitung auf schwere Krankheit oder gar des eigenen Todes zu beschäftigen. Es kann aber Ängste lindern, wenn Sie wissen, dass Sie bestmöglich vorgesorgt haben. Sprechen Sie auch mit Ihrer Familie über dieses Thema und die konkreten Regelungen, die Sie getroffen haben. So kann die Familie auch im Krankheitsfall z. B. Überweisungen tätigen, wenn Sie rechtzeitig Bankvollmachten ausgestellt haben.

3. Denkfalle: Je näher die Krankheit, desto größer die Angst

Wir bekommen immer dann stärkere Ängste vor Erkrankungen und Tod, wenn sie subjektiv in unserer Nähe auftreten, z. B. Verwandte oder Freunde betroffen sind. Wir sind dann nicht mehr in der Lage, objektiv statistische Wahrscheinlichkeiten und Risiken zu beurteilen: „Jetzt ist auch meine Oma in Stuttgart erkrankt, also werde ich in Hamburg jetzt bestimmt auch bald krank!“

Tipp: Hören Sie nicht nur auf das, was Ihnen im Kollegen-, Freundes- oder Familienkreis über die Ausbreitung des Corona-Virus erzählt wird. Hier wird meist nur über Einzelfälle berichtet, die wenig aussagekräftig sind. Halten Sie sich lieber an die offiziellen Berichte der Regierung und der Behörden. Das eigene Risiko zu erkranken, erhöht sich auch nicht über die Nähe des Verwandtschaftsgrads oder die Intensität der Freundschaft. Eine reale Ansteckungsgefahr hängt immer mit der räumlichen Nähe zusammen. Tatsächlich erhöht sich das eigene Ansteckungsrisiko nur dann, wenn Sie wirklich im engen Kontakt mit Infizierten waren. Im Moment ist die Krankheit noch so wenig verbreitet, dass die Wahrscheinlichkeit (noch) recht gering ist, wirklich mit infizierten Menschen in Kontakt zu kommen. 

Und genau dazu dienen die aktuellen Empfehlungen zur sozialen Distanz, zur Selbstisolation und zur Quarantäne!

4. Denkfalle: Je neuer die Gefahr, desto größer die Angst

Neue Bedrohungen lösen stärkere Ängste aus als bereits bekannte. So kommt es dazu, dass jeweils neu auftretende Viren (SARS, MERS, SARS-CoV-2) uns mehr ängstigen und mehr öffentliche Aufmerksamkeit bekommen als z. B. die jährliche Grippewelle oder die Todesfälle im Autoverkehr. Wir haben noch keine Erfahrungen im Umgang mit der neuen Gefahr, wir können den Grad der Gefährlichkeit noch nicht einschätzen.

Tipp: Machen Sie sich bewusst, dass das neue Corona-Virus nur eine Gefahr unter vielen darstellt. Wir leben mit vielfältigen Risiken und lernen im Laufe der Zeit, mit ihnen umzugehen. Das wird auch mit dieser Erkrankungswelle so sein. Machen Sie sich klar, dass irgendwann der Höhepunkt der Krise erreicht sein und sich das Krankheitsgeschehen abschwächen wird. In einigen Jahren werden wir auf diese Zeit zurückblicken und die „Corona-Zeit“ als eine neue Erfahrung verarbeitet und in unseren Alltag integriert haben. Vielleicht werden wir uns dann routinemäßig nicht nur gegen Influenza-Viren, sondern auch gegen das SARS-CoV-2-Virus impfen lassen. Wir werden dann die passenden Präventiv- und Gegenmaßnahmen besser kennen und uns darauf eingestellt haben.

5. Denkfalle: Was die anderen machen, ist sicherlich richtig

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Quelle: Julia Scharnhorst | Health Professional Plus

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