Mit »Nudging« will der Staat Entscheidungen des Verbrauchers beeinflussen. Sind wir auf dem Weg in eine psychologisch gelenkte Demokratie?

Von Holger Christmann

Wir leben in einer Zeit der Bevormundung des Bürgers durch einen fürsorglichen Staat. Seit Kurzem beschäftigt sich im Bundeskanzleramt eine Projektgruppe damit, wie man den Bürger ermuntern kann, das zu tun, was gut für ihn und die Gesellschaft ist. Das Team trägt einen Namen, der bedrohlich zielgerichtet klingt: »Wirksam Regieren«. Die erste Beratergruppe dieser Art leistete sich der britische Premierminister. Sein »Behavioural Insights Team« (BIT) arbeitet inzwischen unabhängig von Downing Street und berät internationale Organisationen und Regierungsstellen von Australien bis in die USA. Das BIT war auch Vorbild für eine neue Position im Weißen Haus, wo seit letztem Jahr die Neurowissenschaftlerin Maya Shankar den Präsidenten berät. Die Bundesregierung folgt mit ihrer Projektgruppe also einem internationalen Trend.

Der Bürger – mündig oder manchmal dumm?

Hintergrund ist der Boom der Verhaltensökonomie, eines Teilgebiets der Wirtschaftswissenschaften. Die klassische Wirtschaftswissenschaft basiert auf dem Modell des Homo oeconomicus, der in jeder Situation rational und vollständig informiert die für ihn nützlichste Entscheidung trifft. Das Problem an diesem Modell war schon immer, dass Menschen oft nicht gut informiert sind, von Irrtümern und Emotionen geleitet werden. Das zeigte zuletzt die Weltfinanzkrise von 2008. Diese »unvernünftigen« Verhaltensmuster erforschen die Behavioral Economics. 2008 stellten der amerikanische Ökonom Richard Thaler und der Rechtswissenschaftler Cass Sustein in ihrem Buch »Nudge. Improving Decisions About Health, Wealth, and Happiness« (deutsch: »Nudge. Wie man kluge Entscheidungen anstößt«, 400 Seiten, Ullstein, 9,95 Euro) wichtige Erkenntnisse dieser Disziplin vor. Etwa den Framing-Effekt: Je nachdem, wie man eine Information präsentiert, löst sie unterschiedliche Handlungen aus: Wenn Ärzte ihren Patienten informierten, dass 90 von 100 Patienten eine bestimmte Operation überleben, war es wahrscheinlicher, dass er der Operation zustimmte, als wenn er erfuhr, dass 10 von 100 bei dem Eingriff sterben. Selbst die Ärzte änderten ihre Absichten, je nachdem, wie herum man ihnen dieselbe Information mitteilte. Wurden Probanden gefragt: »Wie glücklich sind Sie? Wie oft haben Sie Verabredungen?«, dann wähnten sie sich im Durchschnitt glücklicher, als wenn sie andersherum gefragt wurden, denn dann stellten sie zwischen Verabredungen und Glück eine direkte Verbindung her. Der Mensch neigt nach Ansicht von Verhaltensökonomen auch zu Planungsversagen, ist träge (»status quo bias«), erliegt dem Post Completion Error und schließt sich gern der Mehrheit an. Planungsversagen führt dazu, dass Menschen den Aufwand unterschätzen, der nötig ist, um ein Projekt zu Ende zu bringen. »Status quo bias« besagt, dass wir dazu neigen, bekannte oder vorgegebene Optionen jeder Veränderung vorzuziehen. Daher wählen die meisten Computer- und iPhone-Nutzer bei der Installation ihrer Software die Standardeinstellungen. Der Post Completion Error führt dazu, dass jemand, der gerade die Hauptaufgabe erledigt hat, den Rest gerne vergisst: Autohersteller verarbeiten diese Erkenntnis, indem sie Tankdeckel lose am Auto befestigen, Banken reichen das Geld erst aus dem Automaten, wenn der Kunde seine Karte aus dem Schlitz gezogen hat. Der Mensch neigt auch dazu, sich zu überschätzen. 90 Prozent aller Autofahrer finden sich überdurchschnittlich begabt am Steuer. Die meisten Menschen ernähren sich auch unvernünftig, trinken zu viel Alkohol und schieben ihre Altersversorgung auf die lange Bank. Hier will der Staat nun nachhelfen, durch »sanfte Bevormundung« (»soft paternalism«).

Die Fliege im Urinal – ein »Nudge«

Thaler und Sustein liefern dafür die Rezepte: »Nudges«, sanfte Stupser. So wie die Fliege im Urinal, die dafür sorgt, dass die Herren nun besser zielen. Beispiele für den Einsatz solcher »Nudges« gibt es in den USA bereits zuhauf. Da Steuerzahler anscheinend annehmen, dass alle anderen auch Steuern am liebsten vermeiden, zogen ihnen US-Finanzämter den Zahn, indem sie die Steuerformulare mit dem Hinweis versandten, dass 90 Prozent der Bürger des Bundesstaats ihre Steuern ordentlich bezahlen. Das förderte anscheinend die Zahlungsmoral der Säumigen. Mit einem ähnlichen »Nudge« senkte ein Bundesstaat den Alkoholkonsum von Studenten. Viele Studenten, so Cass und Sustein, veranstalten Saufpartys, weil sie denken, das gehöre zum Studentenleben dazu (Nachahmereffekt). Eine Kampagne klärte darüber auf, dass der durchschnittliche Student nur vier bis fünf Gläschen die Woche trinke. Offenbar werden seither weniger Studenten mit Alkoholvergiftung in die dortigen Krankenhäuser eingeliefert.

Schubser, die umerziehen

Eine Stadt in Kalifornien wollte den Energieverbrauch der Mitbürger senken und versuchte es ebenfalls mit einem »sanften Schubser«: 300 Haushalten teilte sie regelmäßig mit, wie hoch der Durchschnittsverbrauch in der Nachbarschaft sei. Daraufhin strengten sich alle an, nicht über dem Durchschnitt zu liegen. Dumm nur: Jene, die schon unter dem Durchschnitt lagen, ließen nun das Licht guten Gewissens ein bisschen länger an. Hier erfüllte der Schubser also nicht das erwünschte Ziel. Die Stadtverwaltung kam auf einen neuen »Nudge«. Sie versandte nun per E-Mail Smileys, lächelnde (an die sparsamen) und traurige (an die Verschwender). Das funktionierte besser. Nun sparten alle mehr Energie. In Texas versagten wohl alle Versuche, die Bürger davon abzuhalten, ihren Müll in die Landschaft zu werfen. Ein Schubser, der die richtigen Knöpfe drückte – die Werbekampagne »Don’t Mess with Texas«, die an den Stolz der Texaner appellierte und von berühmten Football-Spielern unterstützt wurde –, sorgte dafür, dass weniger Leute ihren Abfall aus dem Autofenster warfen. Ein anderes Beispiel, wie »Nudges« Menschen umerziehen, nutzt die Trägheit der Status-quo-Neigung. Während in Deutschland und Großbritannien die Zahl der Organspender niedrig ist, weil hier die Bürger ihrer postumen Organentnahme ausdrücklich zustimmen müssen, liegt sie in Österreich bei 90 Prozent. Dort ist man automatisch Spender, es sei denn, man wählt diese Option ausdrücklich ab. Ähnliche »Voreinstellungen«, so Cass und Sustein, könnten die Altersvorsorge oder die Steuererklärung automatisieren.

Freiheit in Gefahr

Was ist nun von »Nudges« zu halten? Grundsätzlich ist nichts dagegen einzuwenden, wenn der Staat Bürger auf »Denkfehler« aufmerksam macht. Und wenn es darum geht, die Äpfel in der Schulkantine besser zu platzieren als die Schokoriegel, dann bedient er sich nur der Methoden, die der Handel schon lange zur Verbrauchermanipulation anwendet. An mancher Ortseinfahrt blicken den Raser auch schon jetzt elektronische Smileys vorwurfsvoll an – auch das sind »sanfte Schubser«. Grenzwertig wird es dann, wenn der Staat den Bürger bei Altersversorgung, Steuererklärung und Organspenden durch vorgegebene Häkchen psychologisch zu überlisten versucht – so wie einem bei der Reisebuchung im Internet vorgegebene Versicherungen angedreht werden sollen. Die Grenze zur Manipulation ist fließend. Der ehemalige Bundesverfassungsrichter Udo Di Fabio sieht durch »Nudging« die Freiheit der Bürger in Gefahr. »Die Regierung soll nicht an uns herumpsychologisieren«, klagt Di Fabio im SPIEGEL. »Lockung, Verführung und unbemerktes Einwirken auf die Psyche sind etwas für Werbeagenturen, nichts für den Rechtsstaat.« Gesetze sollten »klar und bestimmt« sein. »Jeder Bürger soll wissen, was erlaubt und was verboten ist.« Der Bonner Staatsrechtler fürchtet, dass Nudging die Deutschen zu »verhaltenstechnisch gelenkten Versuchsobjekten« machen könnte. »Wir sind keine Labormäuse.«

Wieviel Wahlfreiheit hat der Verbraucher?

Andere Kritiker sehen gar die Grundidee der Aufklärung in Gefahr, die Immanuel Kant als »Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit« beschrieb. Thaler und Sustein stellen zwar klar: Es gehe nicht darum, Dinge zu verbieten oder die Wahlfreiheit des Bürgers und Verbrauchers einzuschränken. Trotzdem hängt der Staat beim Nudging einem Menschenbild an, dass davon ausgeht, dass der Bürger nicht selbst entscheiden kann, was gut und schlecht für ihn ist. Der »sanfte Paternalismus« ist für Kritiker denn auch eine schiefe Ebene, auf der man leicht in Aldous Huxleys »schöne neue Welt« abrutschen könne, wo das Glück verordnet wird. Man wird beobachten, was sich das Drei-Psychologen-Team im Kanzleramt so alles ausdenkt. Und vielleicht erzielt auch mancher »Nudge« gar nicht den gewünschten Effekt. So wie die Warnhinweise auf Zigarettenpackungen – oder was da sonst noch kommen mag. Je gruseliger sie wurden, desto mehr stumpften die Raucher ab. Inzwischen sind die Schockverpackungen Kult und werden von Liebhabern des blauen Dunstes gesammelt. Welche Produkte kommen als Nächste dran? Wird auf der Flasche Barolo bald eine Leberzirrhose abgebildet sein, auf süßen Keksen ein Diabetes-Opfer? Sinnvoller wäre ein ganzheitlicher Ansatz, der auf Aufklärung und Transparenz setzt. Dann sollte man dem Individuum zutrauen, auf der Basis aller zur Verfügung stehenden Informationen eine eigenverantwortliche Entscheidung zu treffen.

Dieser Beitrag erschien in der Print&more Ausgabe 3/2015.