Immer weniger Menschen haben Lust auf Führungspositionen. „Selbst junge Single-Männer ohne jeden Hauch einer eigenen Familie“, klagen Personal- und Ressortverantwortliche „lehnen Führungspositionen ab.“ Die Generation Y will nicht Karriere, sondern Selbstverwirklichung. Was muss ein Führungsjob heute bieten, damit er keine Platzhalter, sondern echte Führungskräfte anzieht?

Von Cornelia Topf, metatalk Augsburg

Die Führungsverweigerung hat inzwischen auch die Flaggschiffe der Wirtschaft erfasst. Prominenter Vertreter der Verweigerer ist zum Beispiel Jochen Rudat, Deutschland-Chef von Tesla. Im Interview einer süddeutschen Tageszeitung sagt er: „Ich habe mich 2009 bei Tesla beworben, weil ich mich mit meiner Arbeit nicht mehr identifizieren konnte. Mir hat der Sinn gefehlt.“ Rudat arbeitete bis dahin bei Porsche und BMW. Sinnlose Arbeit? Starker Tobak.

Vor kurzem klagte mir eine Coachee, seit einem Jahr Redaktionsleiterin: „Ich würde so gerne selber mal wieder einen Artikel schreiben. Keine Chance! Das Administrative, Strategische und Organisatorische lässt das nicht zu. Zum eigentlichen Handwerk komme ich nicht mehr. Dabei war das der Grund, weshalb ich den Beruf ergriffen habe.“ Ich fragte sie, warum sie das mir, ihrer Coachin erzähle. Und nicht ihrem Vorgesetzten: „Das habe ich doch! Der sagte mir: ‚Dass Sie jetzt deutlich mehr Geld kriegen, ist keine Gehaltserhöhung, sondern Schmerzensgeld dafür, dass Sie mit Journalismus nichts mehr zu tun haben.“ Autsch. Natürlich hat der Vorgesetzte Recht. Es besteht ein Unterschied zwischen Rechthaben und Value Management.

Viele Magazinmacher betrachten, neben dem Unterhaltungsaspekt, die Decodierung der Realität als attraktivstes Asset der Mediengestaltung. Decodieren wir doch mal den Führungsdialog von eben; Redaktionsleiterin: „Mein Wert ‚tolle Artikel recherchieren und schreiben‘ kommt im neuen Job zu kurz!“ Vorgesetzter: „Vergessen Sie den Wert!“ Das ist eine Option, natürlich. Leider mit hohen psychologischen Zugangshürden: Die meisten Menschen können und wollen Teile ihrer Identität und ihres Selbstverständnisses selbst nach vorgesetzter Aufforderung nicht aufgeben. Sie gehen den leichteren Weg. Sie gehen. Vor allem jene, die gehen können. Weil sie gut sind. Besagte Coachee und Redaktionsleiterin leitet jetzt im selben Großverlag eine andere Redaktion. Ihr neuer Vorgesetzter sagte beim Sondierungsgespräch: „Ich will eine prägende Feder auf diesem Posten und keinen Verwaltungsredakteur. Hauen Sie von mir aus pro Ausgabe einen Beitrag raus! Ich halte Ihnen den Rücken frei!“ Was ist das? In zwei Worten: Value Management. Die Identifikation und aktive Berücksichtigung der Werte jener, die man/frau führt.

Dass Karriere, Aufstieg, Beförderung, Hierarchiestatus, mehr Gehalt, besseres Büro oder größerer Firmenwagen heute nicht mehr so gut als Motivation funktionieren wie noch vor fünf Jahren, liegt am vielzitierten Wertewandel der Gesellschaft. Wir alle lesen davon und schreiben darüber. Leider reichen weder Lesen noch Schreiben aus, um Führungskräfte zur Anpassung ihrer ausgeübten Führung an diesen Wertewandel zu bewegen. „Die wollen nicht mehr Redaktionsleiter werden?“, fragte jüngst ein Personalleiter. „Ja was wollen die dann?“ Ein Blick in eines seiner Magazine könnte es ihm verraten: Sie wollen Familie und Beruf besser vereinbaren, sich selbst auch im Job verwirklichen, wirklich interessante Themen verfolgen (und nicht bloß auf Anzeige und Zeitgeist schielen), als Führungskräfte nicht hauptsächlich Kostendrücker und Jobkiller sein oder sich, wie Jochen Rudat, mit der eigenen Arbeit identifizieren und einen Sinn darin sehen.

Manche würden trotz der beschriebenen Nachteile eines Führungsjobs immer noch gerne führen, „aber dann bitte in Teilzeit“. „In Teilzeit kann man nicht führen“, sagt der Geschäftsführer eines Familienunternehmens: „Was mache ich, wenn am Nachmittag eine dringende Entscheidung ansteht und mein Ressortleiter ist dann nicht im Büro?“ Gute Frage, schlechte Annahme. Der Geschäftsführer nimmt unbewusst und unreflektiert an, dass er den Wertewandel ignorieren oder mit Verweis auf die Rahmenbedingungen wegerklären kann. Er erklärt damit tatsächlich etwas weg. Nämlich zwei seiner Führungskräfte. Die arbeiten jetzt bei der Konkurrenz. Die sagte: „Ihr beide wollt euch den Führungsjob teilen? Macht ruhig. Wenn das klappt, gut. Wenn nicht, seid ihr raus.“ Sie sind drin. Seit mittlerweile zwei Jahren. Das klappt so gut, dass inzwischen auch andere Führungskräfte fordern: „Das wollen wir auch!“ Das Unternehmen reorganisiert derzeit seine Führungsstruktur. Das entspricht dem Wertewandel und macht Riesenaufwand. So aufwändig muss es nicht immer sein.

Neulich sagte mir ein Verlagsleiter: „Wir haben kein Problem, Führungspositionen zu besetzen. Bei der aktuellen Entlassungswelle ist doch jeder froh, wenn er die Treppe rauffällt.“ Jeder? Nein. Sondern hauptsächlich jene, deren überragende Werte „Jobsicherheit und Aufstieg“ sind. Sind das die Werte, die New York Times und Washington Post im Sommer 2016 in der Reichweite erstmals wieder an BuzzFeed und Huffington Post vorbeiziehen ließen? Sicher nicht. Dafür sind andere, progressivere, content- und zielgruppenorientierte Werte nötig – und eben nicht bloß Existenzerhalt und Besitzstandsdenken. Immer wieder berate ich Menschen, die im Karriere-Coaching sagen: „Ich möchte unbedingt zu Verlag X! Die machen echt spannende Titel, sind am Puls der Zeit, sind leserinteraktiv und nicht so sensationsgeil wie Boulevard und Tagespresse.“ Als gute Coachin besorge ich mir dann Titel des Verlags und komme nicht selten zum Schluss: Von den besagten Werten finde ich darin jetzt nicht wirklich überragend mehr als bei der Konkurrenz – aber die Kommunikation dieser Werte ist exzellent, explizit und allgegenwärtig. Und das reicht oft schon. Das ist die Paradoxie des Wertemanagements.

Die Chefredakteurin eines Gesundheits- und Wellnessmagazins sagt: „Zeit-, Erfolgs- und Kostendruck sind inzwischen so mörderisch – wir sind alle mehr oder weniger gesundheitlich ramponiert. Und geben unseren Leserinnen und Lesern gleichzeitig Tipps zur Gesundheit!“ Der Verlagsleiter sagt trocken: „Mir bekannt. Aber ich habe das Geld nicht. Was soll ich machen?“ Gute Frage. Das Problem ist, dass er sie rhetorisch stellt. Seine Chefredakteurin nimmt die Frage wörtlich. Und beantwortet sie selber. Ein Auszug aus ihrer Antwortliste: ambulante Masseurin (man teilt sich die Kosten), Schnellkurs in Mini-Pausen, Betriebssportgruppe Transzendentale Meditation, die feste Freie Schmitz, die nebenberuflich Stressmanagement unterrichtet, macht die Redaktion in Stressbewältigung fit … Alles Tropfen auf den heißen Stein? Rein medizinisch vielleicht ja. Doch diese „Tropfen“ sind Ausdruck der Wertorientierung „Gesundheit – auch für uns“. Und das honoriert die Redaktion! Ein Redakteur sagt: „Wir sind nicht naiv. Wir sehen auch, dass der Verlag finanziell keinen Spielraum hat. Aber er engagiert sich! Das ist schon was.“ Werte sind paradox: Wenn man sie nicht vorleben kann, hilft es bereits, sich glaubhaft (im Gegensatz zu floskelhaft) zu ihnen zu bekennen – und das zu tun, was halt geht. In vielen Organisationen geht leider gar nichts. Und das liegt nicht an den Organisationen.

„Die wollen sich selbst verwirklichen?“, fragte mich neulich ein Vorstandsmitglied halb scherzhaft. „Das sollen sie in ihrer Freizeit machen!“ Das machen auch viele; via Hobby, Familie oder Ehrenamt. Oder sie suchen sich Vorgesetzte, die weniger gleichgültig gegenüber Werten eingestellt sind. Das ist kein Vorwurf ans Management! Im Gegenteil. Gleichgültigkeit gegenüber Werten ist praktisch eine Tautologie: Wenn ich mich mit meinen Werten identifiziere (für diese Identifikationsstiftung sind sie schließlich da), dann sind mir andere, abweichende Werte erst mal suspekt – das ist Sinn und Zweck des psychologischen Konstrukts „Werte“: Individuation, Identitätsstiftung, Abgrenzungsmöglichkeit. Und im Management regiert nun mal in vielen Organisationen die ZDF-Wertetriade: Zahlen, Daten, Fakten. Nur was messbar ist, existiert. Schließlich wird man nach Zahlen bezahlt und nicht nach „Werten“!

Deshalb bin ich immer wieder baff, wenn Manager ins Coaching kommen und fragen: „Wie gehe ich mit dem Wertewandel bei meinen Mitarbeitern um?“ Ich frage dann vorsichtshalber zurück: „Das wollen Sie wirklich wissen? Respekt!“ Denn das ist harte Arbeit. Arbeit, die ihrerseits einen Wert voraussetzt. Oder sagen wir neuhochdeutsch besser: einen Mindset – also eine Glaubenshaltung (leider benutzt seit dem Bestseller von Carol Dweck niemand mehr diesen schönen deutschen Begriff; selbst die deutsche Ausgabe hieß so). Nämlich den Open Mindset (eine offene Geisteshaltung): „Ich kann und möchte mich verändern – auch meine Werthaltung!“ Dieser Mindset ist im Management unterrepräsentiert, weil Beförderungen in Führungspositionen von einer Adverse Selection (wörtlich: widersinnigen Auswahl) stark beeinflusst werden: Ins Management steigen überproportional jene auf, die überdurchschnittlich von sich selbst, das heißt auch von ihren Werten überzeugt sind, bis hin zu Überzeugungsrigidität und Beratungsresistenz. Das nennt die US-Forscherin Carol Dweck einen Fixed Mindset. Er erklärt, warum derzeit bestimmte Organisationen, Verlage, Ressorts oder Redaktionen einen Brain Drain erleben, das heißt eine Kündigungswelle der Leistungsträger: Die Guten gehen im Wertekonflikt. Und ihre Vorgesetzten lassen sie ziehen, weil sie nicht von ihren fixen Werten runterkommen. Tragisch. Und vermeidbar.

Ich freue mich jedes Mal, wenn mich ein Manager oder häufiger eine Managerin nach Wertearbeit in der Führung fragen. Man muss schon eine exzellente Führungskraft sein, um überhaupt auf so eine Frage zu kommen. Werte sind immer noch strikt Zukunftsthema. Nur die Klassenbesten haben überhaupt ein Auge dafür – und sind meist konsterniert. Wie die Leiterin eines kleinen Verlags klagt: „Wir kämpfen jeden Tag ums Überleben. Leider ist Überlebenskampf nicht die Wertvorstellung, die meine besten Redakteure leitet. Die wollen was anderes. Aber wir können halt derzeit nicht anders!“

Das ist falsch. Immer. Ausnahmslos. Wenn Viktor Frankl selbst im KZ seinen Wert der Selbstverwirklichung ausleben konnte und vor allem wollte, kann es jede Führungskraft auch unter weniger feindlichen Rahmenbedingungen. Es beginnt damit, die Werte der Menschen im Umfeld erst einmal zu identifizieren. Wir kennen sie meist nicht, obwohl sie uns diese permanent zu erkennen geben. Oft, indem sie meckern. Der eine Layouter klagt zum Beispiel: „Diese restriktiven Vorgaben ersticken jedes kreative Layout!“ Der andere meint: „Was wollt ihr denn? Gebt endlich klare Aufträge!“ Der eine pflegt Kreativität als Wert, der andere Konsequenz und Klarheit. Beide Werte kann man(ager) bedienen. Jederzeit. Meist mit vernachlässigbarem Aufwand. Das richtige Wort reicht oft schon. Der eine braucht etwas mehr Freiheit, der andere etwas deutlichere Arbeitsaufträge. Das kann jede Führungskraft leisten. Überall. Jederzeit. Wenn sie möchte. Möchten Sie?